Marius Flothuis - Mozarts Klavierkonzerte

Marius Flothuis - Mozarts Klavierkonzerte    C.H.Beck - Verlag   8,95€

 

 

Ein treffliches Gleichnis zu Mozarts Rolle in der Musikgeschichte besagt,er habe nicht die Tür zum 19. Jahrhundert geöffnet,sondern die des 18. Jahrhunderts geschlossen. Der architektonische Teil dieses Bildes wäre erweiterungsfähig.Während Beethovens Gesamtwerk dem Hörer eine gigantische,unerschöpfliche Akropolis präsentiert, den Nachfolgern eine ehrfurchtgebietende,uneinnehmbare Festung,stelle man sich Mozart als Hausherr eines schmucken ländlichen Anwesens vor,gastfreundlich,geräumig und weltoffen,mit frischer Luft bei mildem Durchzug dank gekippter Fenster und angelehnter Tür.Mehr benötigt nicht, wer in kürzester Spanne die Gegensätze seines Zeitalters in ewiggültigen Charakteren mittels des Zuganges zum Schlafzimmer aufeinandertreffen läßt.Figaro kämpft gegen das adlige Privileg des "Rechts der ersten Nacht",der Aristokrat Don Giovanni für das Recht auf alle Nächte,wobei er es selten genug überhaupt bis ins Schlafzimmer aushält.

Mit diesen beiden Opern im Gedächtnis lassen wir nun Türen und Fenster beiseite und betreten den staunenswertesten Raum des Mozart'schen Gebäudes,um dort den Flügel zu öffnen und vom langjährigen Leiter des Concertgebouw Orchesters Marius Flothuis die Klavierkonzerte erklärt zu bekommen.

 Ein kurzer historischer Abriß belehrt uns zunächst,wie Mozarts Ausbildung durch den Vater und Michael Haydn mit Kirchenmusik,Symphonik und Kammermusik begann ,wodurch er verhältnismäßig spät von einem der Bach-Söhne mit dem Klavierkonzert,als dessen "Erfinder"Johann Sebastian Bach gilt,vertraut wurde - nämlich im fortgeschrittenen Alter von acht Jahren.Es folgt eine Vorschriftentabelle,wie ein solches Konzert aufgebaut sein soll,deren Unverbindlichkeit schon daraus ersichtlich ist,daß nicht nach einer vorliegenden Regel komponiert,sondern umgekehrt die Regel nach den vorliegenden Stücken aufgestellt wurde. Nebenbei ein Beleg, daß Richard Wagner nicht nur Rausch und Überwältigung, sondern auch gediegenes Handwerk beherrschte: "Wie fang ich nach der Regel an? - Ihr stellt sie selbst und folgt ihr dann." (Die Meistersinger von Nürnberg) Anschließend der Analyse-Teil, wissenschaftlich,detailversessen,nüchtern,mit Taktangaben zur Gliederung des Aufbaus der einzelnen Sätze.Zwei Fragen drängen sich auf: 1. Kann man die Musik nicht auch einfach nur hören? 2. Ergibt sich ein Mehrwert,wenn ich weiß,daß das Ritomell 64 Takte,das Thema 8,die Überleitung 8,die Schlußgruppe 12 und die Durchführung 24 Takte aufweist? Die Antwort auf Frage 1 und 2 lautet kurzgefaßt: Ja! Es ist kein ästhetischer Pluspunkt und kein Qualitätsmerkmal,wenn der Hörer im Wissen um die Sonatensatzelemente des Rondos das 2. Couplet als Durchführung, vielleicht gar angereichert mit einem Fugato, identifizieren kann.

 Doch wer sich auf vergleichbares einläßt, kommt zunächst in den Genuß eines zivilisatorischen Aspektes: Er kann sich über die von ihm geschätzte Musik mitteilen. Und er kann an den Bemühungen teilnehmen,eine wortlose,emotionale Kunst zu objektivieren. So ist der vorliegende Band mit meinen beiden allgemeinen Konzertführern und der Musikwissenschaft im Konsens bezüglich des herausragenden Jugendwerks (KV 271),des Beginns der Reife und Meisterschaft (KV 449) und des eher symphonischen,bilanzziehenden Charakters des letzten Klavierkonzertes. Der hier Mozart allein zur Verfügung stehende Raum erlaubt noch präzise Hinweise auf Entwicklungslinien,kompositorische Fortschritte,Selbstreflexion durch scharfe Kontraste in aufeinanderfolgenden Werken. Als Mittel der Komplexitätssteigerung sei die zunehmend häufiger gebrauchte unregelmäßige Periodisierung und die Ausweitung der Durchführung mittels thematischer Arbeit und stellenweise enormen Modulationsreichtum genannt. Die Konzertreihe KV 453 - 467 weist gar Spuren späterer Techniken von Beethoven und Schubert auf. (Nanu? Die Tür zum 19. Jahrhundert - Und sie bewegt sich doch?)

 Diese Gruppe von fünf Konzerten bot mir persönlich die größte Bereicherung bei der Lektüre.Freude über die besondere Schätzung meiner Lieblingswerke KV453 und 456,Verweigerung der Hochschätzung des folgenden KV 459 durch Mitvollzug der Analyse,der dritte Satz gefällt mir einfach nicht, Auffindung einer Lücke im besprochenen Buch, die nicht erwähnte Vorwegnahme der späten g-Moll Symphonie in einem takt von KV 467 und ein wunderschönes Hörerlebnis bei KV 466: laut Flothuis enthält die Orchesterexposition ein nur "scheinbares" zweites Thema,dem erst in der Soloexposition das wirkliche folgt. Der Laie grübelt,welches Kriterium ein Thema als scheinbar diskreditiert und nicht zustimmend über die sich einstellende Freude bei Soloinstrument und Orchester in der Exposition,wenn sie endlich das "richtige" zweite Thema spielen dürfen und erschüttert über die regelrechte,aber besonders demonstrative Mollwendung des letzteren in der Reprise.

 Damit es nicht gar zu ernst wird nun eine Prise widersprüchlicher Subjektivität auch bei Musikwissenschaftlern: In allen von mir konsultierten Konzertführern sind die Hinweise zu Opernelementen und konkreten Mozartopern bezüglich der Klavierkonzerte häufig,die Zuordnung einzelner Opern zu den Werken jedoch stark abweichend.Und hinsichtlich der Themenzählung bei KV 456 und KV 491 kommt einem ein Stück aus einer ganz anderen Musikrichtung in den Sinn: Six to two babe,one in five (für reine Klassik-Liebhaber: Das sind die "Türen" des 20. Jahrhunderts).

 Zum Abschluß des Bandes gibt es ein paar kritische Anmerkungen zur sogenannten "historischen" Aufführungspraxis,d.h.mit Originalinstrumenten.Besonders stimmig scheint mir Flothuis' Argument,daß die zur Mozartzeit gebräuchlichen Hammerklaviere nicht voluminös genug sind für die Gegenwartsakustik und Besucherzahl. Und es soll doch wohl nicht Ziel von Kulturpolitik und -förderung werden, Konzertsaal und Hörerschaft zu verkleinern.Dann könnte der Liebhaber mit Recht ausrufen: Du kriegst die Tür nicht zu!

 

Rezension: 
Frank Rüb, Mainz, Januar 2019