Edward Macan- Rocking the Classics. English Progressive Rock and the Counterculture

Oxford University Press Preis ca. 50 €, Lieferzeit ca. 10 Tage

 

Der Titel des hier besprochenen Werkes bedeutet keineswegs eine überbordende Verwendung sinnloser Anglizismen, es ist- mit drei später erwähnenswerten Ausnahmen- in englischer Sprache verfasst. Mit dem Hintergrund von neun Jahren Schulenglisch und einem soliden Taschenwörterbuch konnte der Rezensent die Herausforderung meistern, trotz der eleganten und anspruchsvollen Ausdrucksweise des Verfassers, seines Zeichens Musikwissenschaftler in den USA, wo das Buch 1997 erschien und bis heute lieferbar, jedoch nicht übersetzt ist. Amerika, Du hast es besser!

Nach der zwiespältigen Kritik eines deutschsprachigen Titels zum Thema aus dem Jahre 2018 nun eine uneingeschränkte Kaufempfehlung für alle, denen die Sprachbarriere kein allzu großes Hindernis ist. Fairerweise sei gesagt, dass die Zitate Macans im erwähnten Werk mein Interesse weckten, und der in der Besprechung gelobte Punkt, die Songanalysen, zwar nicht die Präzision und Bündigkeit erreicht, aber dank des zur Verfügung stehenden größeren Raumes Eigenständigkeit und Breite, in den besten Momenten auch Tiefe, und zwei Vergleichsmöglichkeiten, nämlich ELP`s Tarkus und Yes` Close to the Edge.

Die Informationsfülle, die Macan auf jeweils zehn Seiten bezüglich Komposition, Inhalt, graphischer Gestaltung auf den jeweiligen Plattencovern und äußeren Einflüssen bietet, ist enorm, Grundkenntnisse in Musiktheorie sind hilfreich, weniger diplomatisch ausgedrückt: werden vorausgesetzt.

Ohne solche müssen die Hinweise auf die sorgfältig gewählten Tonarten-Korrespondenzen der in diesem Kapitel ebenfalls analysierten Wish You were here-Songs achselzuckend abgenickt werden, allgemeinverständlich sind dagegen Erklärungen zu strukturellen Kunststücken wie der genialen Dosierung der akustischen Gitarre im Welcome to the Maschinenpark- die Herren haben ja nicht umsonst Architektur studiert.

Kompositorische Fähigkeiten und akademische Herkunft, jeweils dank Zugehörigkeit zur oberen Mittelklasse, dies ist der Dreh- und Angelpunkt der gesamten Darstellung.

Zunächst die musikalische Seite: Eine ganze Horde hochbegabter Individuen betritt nach dem Sgt. Pepper-Urknall die Szene. Vertraut mit klassischen Prinzipien wie Suitenaufbau, Chorgesang, Kirchenmusik, Sonatensatz, Modulation und Harmonielehre, Virtuosen auf dem breiter werdenden Arsenal von Instrumenten und vor Innovationskraft berstend.

Dann die soziologische Seite: Ein exklusiver Zirkel glänzend gebildeter College-Absolventen, genauer: Studienabbrecher, erweitert nach dem Sgt. Pepper-Urknall die Möglichkeiten. Vertraut mit der europäischen Hochkultur, offen für weltweite Ausdehnung des Stoffes, nach ambitionierten Inhalten dürstend.

Und beides erfolgreich angewandt auf die Steilvorlage der im Untertitel erwähnten „Counterculture“. Es ist ein Lesevergnügen ersten Ranges, wie Macan die befruchtende Wirkung der genannten Punkte auf die Ausgangslage der vorgefundenen und sie bedingenden Hippie-Kultur nachzeichnet. Von der Übernahme der Kritik am transzendenzlosen Zeitgeist-Materialismus der westlichen Welt (der sich allerdings als langlebig und zäh erwiesen hat) bis zur Veredlung ausgedehnter Improvisationsfreiräume durch klassische Strukturiertheit (Bewusstseinserweiterung ohne roten Faden kann sehr öde sein).

Gegen die Kritik von Verfechtern des einfachen, unbehauenen und geradlinigen Rock argumentiert der Verfasser bestechend, ohne in blinder Begeisterung für sein Thema befangen zu sein. Um von der Freude am Nachvollzug nichts vorwegzunehmen sei nur hinzugefügt, dass kleine Widersprüche in einer vielschichtigen Welt die eigene Glaubwürdigkeit erhöhen und eine Ergänzung des Rezensenten zum Vorwurf der unpolitischen Abgehobenheit erlaubt: Schauen Sie sich doch mal die Texte von 21st Century schizoid Man, Cross-eyed Mary, Kiev (Rennaissance), Biko, Take the water to the mountain und After the Flood an. Zeugen die Themen Vietnamkrieg, soziale Ungerechtigkeit, Armut, Apartheid, Waldsterben und Klimawandel von Weltfremdheit? Dann seien wir auf der Hut vor Weltbekanntschaft!

Angesichts des heute drohenden Aufeinanderprallens künstlicher Intelligenz mit natürlicher Dummheit kann man nur hoffen, dass das vom Autor geschätzte, dystopische Karn Evil 9 noch eine Weile Zukunftsmusik bleibt. Dabei waren die (großteils) privilegierten, (ausnahmslos) jungen, (häufig) aus dem Südosten Englands stammenden , (ausnahmslos) weißen (ausnahmslos minus Annie Haslam und Sonja Kristina) Männer doch angetreten, ihr Publikum teilhaben zu lassen, Dualismen (männlich/weiblich, Popkultur/Hochkultur, Natur/Technik) zu versöhnen und Getrenntes (afroamerikanische Rhythm´n´Blues-Wurzeln, Jazz, europäische Kunstmusik und asiatische Meditation) auf einer höheren Ebene zusammenzufügen.

Mit den neoprogressiven Nachfolgern bis in die neunziger Jahre geht Macan wohlwollend und hochkompetent um, nostalgisch nur an neuralgischen Punkten wie fehlender analoger und akustischer Wärme, nachlassenden Gesangeskünsten (natürlich minus Fish) und verlorener Risikobereitschaft der durchkommerzialisierten Plattenindustrie.

Eine schöne Würdigung des Anspruches des für Autor und Rezensent „Goldenen Zeitalters“ von 1970-76 lieferte ungewollt der Musikkritiker Jan Brachmann in einem Beitrag zur letztjährigen Eröffnung des Frankfurter Romantik-Museums. Man ersetze den Namen der Epoche in seinem Einleitungssatz durch unser Thema und erhält die Aussage: (Progressive Rock) „ist die Suche nach spiritueller Neugeburt auf der Höhe kultureller Reflexion und zugleich Erhebung der Musik zur Leitkunst im System der Einzelkünste.“

Zu hoch gegriffen? Dann prüfen Sie mal, in welchem Kontext Macan die deutschen Ausdrücke Gesamtkunstwerk, Leitmotiv und Sprechstimme benutzt.: Parsifal goes Close to the edge- und nimmt großzügiger Weise noch Hermann Hesse mit. Der Texter und Sänger des monumentalen Referenzwerkes, vom Verfasser treffend „master of cosmic soliloquy“ genannt, hatte nebenbei als Ausnahme der südenglischen Herkunftsregel eine bezeichnende Gemeinsamkeit mit dem Urromantiker Novalis: Beide wussten, wie ein Bergwerk von innen aussieht. Wenn beim Bohren im Dunkeln die Hymmnen an die Nacht bis zum Erreichen des Heart of the Sunrise angestimmt werden, sollte doch für jeden etwas dabei sein. Anders ausgedrückt: Nichts dürfte für eine gelingende Sinnstiftung im Leben wertvoller sein als die Auseinandersetzung mit inhaltlich wertvollen Produkten der Sinnsuche.

 

Rezension von Frank Rüb, März 2022