Roger Daltrey - My Generation

Roger Daltrey- My Generation

Bertelsmann-Verlag € 24.-

Ist jemand auf der Suche nach einem originellen Novellenstoff? Ein Vorschlag wäre „Der größte Tag im Leben des Scot Halpin“. Scot Halpin spielte Schlagzeug bei der bekannten Rockgruppe The Who. Davon wussten Sie nichts? Er selbst erfuhr es auch erst spät am Abend seines größten Tages. Während der Quadrophenia-Tour konnte ein Konzert nicht fortgeführt werden, weil Schlagzeuger Nummer Eins bewusstlos „mit der Backe auf der Snare-Drum lag“. Townshend frug ins Publikum, ob einer den Part übernehmen könne und Halpin meldete sich.

Oder „Kim sucht ihren Vater, trifft ihn im Kino und erkennt ihn nicht“. Die achtzehnjährige Kim wird beim Ermittlungsversuch ihrer leibhaftigen Eltern mit fadenscheinigen Ausreden abgespeist, schaut sich zwischenzeitlich die Tommy-Verfilmung an, hakt später noch einmal nach und geht mit ihrem Vater Roger Daltrey ins Café, um dessen fünfzigsten Geburtstag zu feiern.

Beide Episoden sind mittels des Registers des vorliegenden Buches schnell zu finden. Es lohnt sich durchaus, dort etwas zu verweilen und zu schmökern.

Einmal wegen einzigartiger Einträge wie „Equipment-Zertrümmerung“ (drei Seitenangaben) oder „Adolf (Bullennatter)“, eine ungiftige Schlange und zeitweiliger Tourbegleiter, von Daltrey wegen ihrer stillen und friedlichen Art geschätzt als Kontrast zu den restlichen Mitgliedern. Dann darf man grübeln, was dem lesenden Who-Fan alles erklärt werden muss: „Beatles, The (brit. Rockgruppe)“ und „Rolling Stones, The (brit. Rockband)“. Hören die denn sonst nur Opern?

Keine Frage, dieses Buch wurde geschrieben und wird gelesen, weil der Verfasser Sänger der brit. Band/ Gruppe Who, The ist, doch wäre es ein grobes Versäumnis, Registerrosinenpickerei zu beschreiben oder sich auf die musikalischen Kapitel zu konzentrieren. Hier hat einer etwas erlebt und etwas zu erzählen und diese Kombination ist nicht zwangsläufig. Kindheit im Nachkriegsengland, aufmüpfige Jugendjahre, Familiengründung kontra Karriere, Gesetzeskonflikte, Zweitbeschäftigung, Depressionsbekämpfung, Rückzug ins Private und positive Gesamtbilanz- alles Roger.

Inhaltlich gelingt ihm nicht weniger als die Verbindung der Transformation der mittelalterlichen Lehre von der Einheit der Gegensätze mit der Säkularisierung eines der schönsten platonischen Mythen, wo die weise gewordene Seele des Verstorbenen für den nächsten Durchgang die entgegengesetzte Lebensform wählt- Daltrey packt dies innerhalb des diesseitigen Daseins.

So verknüpft er liebevoll Verständnis für die Elterngeneration mit Notwendigkeiten der Jugendrevolte, Talent als Rampensau mit handwerklicher Fertigkeit, den Blick von der Woodstock-Bühne mit einem Vietnam-Alptraum und Altersweisheit mit der berühmtesten Who-Zeile. Er bekennt sich zu leiblichen Genüssen, die durch Einführung der Pille leichter zu erlangen sind (ohne sich immer nach der tatsächlichen Verwendung bei der jeweiligen Partnerin zu erkundigen, siehe die noch nicht geschriebene Kim-Nouvelle) und erfreut sich an seiner Fähigkeit zu geistigen Genüssen, wenn er als Schauspieler eine Shakespeare-Doppelrolle zu erlernen hat und bemerkt, dass er die Verse nicht nur aufsagen kann, sondern auch versteht. Stilistisch gekonnt, pointiert und mit einer wohlproportionierten Mischung von Witz, Sarkasmus und Empathie führt Daltrey durch den musikalischen Teil seiner Laufbahn. Von der ersten selbstgebauten Gitarre, dem Zueinanderfinden, dem mühsamen Aufstieg bis zur Wechselwirkung zwischen Bühnengebaren und Zuschauererwartungen und der Erdung von Townshends Luftschloß-Ideen im Studio- man schwankt beim Lesen zwischen „da müsste man dabei gewesen sein“ und „mach`s einer nach und breche nicht den Hals“.

 Unermüdlich und geduldig setzt sich Daltrey für seine Kollegen ein: letztlich erfolglos, aber ergreifend für den chaotisch-hedonistischen, wegen eines Autounfalls von schwersten Schuldgefühlen heimgesuchten Moon, erfolgreich durch stundenlanges Einreden auf den genialisch-zerstörerischen Townshend, der noch am nächsten Tag mit dem Entzug beginnt und halberfolgreich beim düster-lauten Entwistle: Daltreys Empfehlung, während des Auftritts die Dynamik zu variieren, wird anfangs beachtet, nach Erreichen der Höchstlautstärke mit breitem Grinsen nicht mehr.

 Und der Autor selbst? Für bandinterne Querelen, die nicht mit Fäusten zu ahnden sind, hat er den Trick mit der Zen-Ente (steht nicht im Register), sich häufende Unglücksfälle und Katastrophen haben ihn angeknackst, aber nicht gebrochen und reifen lassen. Man darf sich Roger Daltrey heute im Kreis seiner wachsenden Familie als glücklichen Menschen vorstellen. Altersweisheit in Kürzestfassung: Who knows!

 Von zahlreichen Beispielen für Keith Moons Hobby „das Herbeiführen von Explosionen“ bis zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zum strategisch ungünstigen Zeitpunkt („Der erste Eindruck, der der große Boss von seinem neu unter Vertrag genommenen Act bekam, war der Leadsänger, der den Gitarristen K.O. schlug.“). Ernüchterung und schlechtes Gewissen ließen Handgreiflichkeiten im Wortsinne folgen- „im Krankenwagen hielt ich die ganze Zeit Pete`s Hand“. Empathie in Kürzestfassung: Who cares!

 Nur für Psychoanalytiker ist er eine harte Nuss. Unsicherheiten und Missgeschicke bei Auffangversuchen des wirbelnden Mikrofons, wenn das Phallus-Symbol auf das Symbolisierte knallt, nutzt er als Hilfsmittel zum Erreichen der hohen Töne- Der Therapeut grübelt. An den Tommy-Drehtag, bei dem er auf dem Rücken liegend stundenlang die hüftschwingende Tina Turner über sich hatte, kann er sich nicht mehr erinnern- Der Therapeut schüttelt den Kopf. Und das Verlassen seiner ersten Frau samt Kind zugunsten der Gruppe entschuldigt er mit: Die Welt wäre voller Townshend-Soloalben- Der Therapeut entlässt den Patienten als hoffnungslosen Fall und fragt seine Sprechstundenhilfe: Who`s next?

 

Rezension: Frank Rüb, November 2019