Schöne Stellen

Musik in der Literatur

Schöne Stellen-

Musik in der Literatur

 Plöger-Verlag € 19,80

 Egal, ob vom Wunsch nach beruflicher Selbstverwirklichung getrieben, von der Begierde nach einschlägigen Passagen in erotischen Romanen oder von Beihilfen zur Lebensführung durch pietistische Bräuche wie das Bibelstechen- häufig befindet sich der Mensch auf der Suche nach Stellen.

Der Titel des vorliegenden Buches, erschienen anlässlich des fündundzwanzig-jährigen Bestehens der Mainzer Villa Musica geht auf eine von Adorno produzierte Sendung des Hessischen Rundfunks zurück, die sich Glanzlichtern der klassischen Musik widmete.

Hier wird jedoch der Spieß umgedreht und eine vielseitige Auswahl literarischer stellen über Musik präsentiert. Liebhaber der Tonkunst dürfen sich freuen, wie viele Romanciers Bedeutendes über ihr Metier zu erzählen haben. Neben genießerischem Schmökern sollte das Augenmerk aber auf thematische Spiegelungen nebst Lektüreempfehlungen gelegt werden.

Zum Anreiz einige Gedanken und Hinweise:

Als Antwort auf Tolstois Erzählung „Kreutzersonate“ hat die niederländische Gegenwartsautorin Margriet de Moor einen gleichnamigen Roman vorgelegt. Man lese die kurzen Auszüge und frage sich: Warum ist Anna Karenina unabhängig vom Umfang das gewichtigere Tolstoi`sche Werk? Warum wird er noch gelesen, wenn kaum mehr jemand Frau de Moor kennen wird? Warum ist ihr Werk trotzdem auf Augenhöhe und unter literarischen Kriterien mehrdimensionaler?

Zwei nette, gefällige Texte laden ebenfalls zum Vergleich ein: Warum trieft die Passage Hanns-Josef Ortheils vor nicht eben angenehmem Selbstbewusstsein, während Peter Härtlings Tosca-Besuch sympathisch unterhält?

Ein stilles Stück über den Kontrast von friedlicher Musik und menschenverachtender Politik eines heute vergessenen Nachkriegsautors wird eingerahmt von drastisch Entgegengesetztem:

Die berührende Beschreibung des jüdischen Orchesters im Warschauer Ghetto in Marcel Reich-Ranickis Autobiographie (gespielt wird Urdeutsches von Mozart, Beethoven und Schumann) einerseits, der die makabre Entgleisung eines Mitglieds der deutschen Oper Berlin, das im Jerusalemer Hotel mit Adolf Hitler unterschrieb, aufgreifende Roman „die Flatterzunge“ von Friedrich Christian Delius andererseits, mit dem die klassische Musik ihren Revolution Blues, Midnight Rambler und Family Snapshot erhält.

Auflockerung bringen der unvergleichliche Robert Gernhardt mit Cartoon und Gedicht, Sarkastisch-Antibürgerliches aus Kuba und Frankreich und das Beste, was das locker-intelligente Amerika zu bieten hat, besonders wichtig angesichts der gegenwärtigen Weltlage, wo die nur in Notsituationen linksextreme Frankfurter Allgemeine die Vereinigten Staaten gerade zum Schurkenstaat erklärt hat.

Die absoluten Höhepunkte der Weltliteratur bieten reichlich musikalische Sternstunden.

Zwei von etlichen möglichen Auszügen aus Marcel Prousts Riesenroman bezaubern, einige Seiten einer Kafka-Erzählung zeigen, wie sprachliche Präzision und psychologische Genialität Abgründiges und Naturalistisches verschmelzen, und der Rezensent denkt darüber nach, mit Musils Mann ohne Eigenschaften noch eine eigene Lektürelücke zu schließen. Thomas Mann beschwört mit gewandten und verführerischen Worten die sinnliche Gewalt von Tristan und Isolde und lässt im tieftraurigsten und todernsten Text nicht nur der präsentierten Auswahl seinen „Deutschen Tonsetzer“ Adrian Leverkühn geistig zusammenbrechen.

Der berühmte Vortrag dessen Musiklehrers am Anfang des Doktor Faustus über Beethovens letzte Klaviersonate ist leider nicht abgedruckt, ebenso wenig Hans Castorps Auftritt als Discjockey (der zeitlich korrektere Begriff wäre wohl „Schallplattenreiter“) am Ende des Zauberbergs im Hifi-Kapitel „Fülle des Wohllauts“. Statt des Glasperlenspiels wäre vielleicht Hesses Musikerroman Gertrud geeigneter gewesen.

Das schmälert nicht den Gesamteindruck, dass Musik und Literatur wunderbar harmonieren können, schon deswegen beruhigend, weil es sonst diese Kolumne nicht gäbe. Der Herausgeber des Bandes, Martin Lüdke, der auch zu jedem gewählten Text eine kundige Einführung beisteuert, trägt in einer mit Witz und Understatement geschriebenen Einleitung seine persönlichen Gedanken hierzu bei. Eichendorffs „Und die Welt hebt an zu singen, triffst Du nur das Zauberwort“ wendet er auf einen Einfall Ernst Blochs an, der einen schwierigen Text zunächst ohne Überschrift zitiert:

„Die spezifische Einfachheit der Bestimmtheit, welche der Körper in der Dichtigkeit und dem Prinzip seiner Kohäsion hat, diese zuerst innerliche Form, hindurchgegangen durch ihr Versenktsein in das materielle Auseinander, wird frei in der Negation des für sich Bestehens dieses seines Auseinanderseins. Es ist dies das Übergehen der materiellen Räumlichkeit in materieller Zeitlichkeit.“ Lüdke merkt richtig an: Kein Wort ist unverständlich. Und kein Satz wird verständlich.

Und wie lautet das als Überschrift ausgelassene Zauberwort?

Kleine Ratehilfe: Ohne es hieße eines der wichtigeren Bodenheimer Geschäfte lediglich „Studio Pohl“.

So wird Dunkel-Abstraktes zum tiefschürfenden plastisch-lebendigen Nachvollzug des Weges von der Klangerzeugung in das hoffentlich aufnahmebereite Ohr und, wohlwollend-produktiv ausgelegt, von der Erfindung der Komposition zu ihrer Weiterwirkung. Einfacher ausgedrückt: Wie es in den Wald hineinschallt, so schallt`s zurück, Ziel auch aller an höchster Wiedergabetreue Arbeitenden. This is the High End.

Rezensent: Frank Rüb, Februar 2020