Campino-Hope Street
Wie ich einmal englischer Meister wurde
Campino - Hope Street. Wie ich einmal Englischer Meister wurde
Piper-Verlag €12,-
Vernimmt der regelmäßige Leser dieser Rubrik, daß der Rezensent auf der Suche nach neuem Material in der Musikabteilung einer Buchhandlung gleichzeitig die Autobiographien des Toten Hosen-Sängers und des Yes-Gitarristen erblickte, wird er sich angesichts des aus der bisher getroffenen Buchauswahl und des daraus hervorschimmernden Musikgeschmacks des Verfassers über die Kopfzeile nicht wenig wundern.
Zur Erklärung: Steve Howe spielt besser Gitarre als er schreibt, bei Campino ist es umgekehrt. Und: Wir haben den gleichen Lieblingsverein. Auch der Weg dorthin war nicht unähnlich. Der junge Andreas Frege (auch Punks haben, horribile dictu, bürgerliche (!) Namen) staunte in einer englischen Sportzeitschrift, der junge Noch-Nicht-Rezensent in einem deutschen Lotto-Magazin über die wunderbaren Vereinsnamen der englischen Liga. Nicht VfL, VfB, 1. FC oder gar Spvgg, nein da stand Nottingham Forest, West Bromwich Alboin, Sheffield Wednesday, Crystal Palace, Queens Park Rangers, Wolverhampton Wanderers - das aktuelle Klang-Studio!
Zum Favoriten wurde dann doch ein FC.
Zur Erklärung: ???
Mit den Beatles hatte es nichts zu tun, die kamen bei uns beiden später.
Hier enden die Gemeinsamkeiten, der beinharte Liverpool-Fan Campino, der seine Tourdaten nach dem Premier-League Spielplan ausrichtet, erdachte sich in seiner Jugend sogar Phantasie-Tabellen mit gewünschtem Endergebnis, was man ziemlich albern finden kann. Apropos finden: In meinem Keller, auf dem Tischchen, das zum Heckenschneiden benötigt wird, findet sich ein uralter Schreibblock, na, welchen Inhalts? Hier enden die Gemeinsamkeiten wirklich, beste Gelegenheit, zur Sache zu kommen.
Gegliedert vom minutiösen Nachzeichnen der Meistersaison 2019/2020 entfaltet der Hosen-Sänger ein Panorama seines Fan-, Familien- und Musikerlebens. Eine gewagte, aber gelungene Symbiose von Rasenschach und Kick-and-Rush. Groß angelegte Erzählbögen und stilistische Leitmotive stehen unsystematisch-sprunghaften Einzelepisoden gegenüber. Beim sportlichen Teil bedeutet das, daß manche legendäre Namen fallen, andere nicht, manche Spiele und Unikate näher beleuchtet werden, manche kaum oder nur sporadisch. Seinem ersten Stadionerlebnis im Landesmeister-Halbfinalspiel 1978 in Düsseldorf gegen Gladbach, einer 1:2 Niederlage, hätte er noch ein paar Worte zum Rückspiel an der Anfield Road folgen lassen können, über die Art des 3:0 Sieges. Das vorherige „Zur Erklärung“ wäre um ein Fragezeichen ärmer. Und die anrührende Schilderung des jahrzehntelangen Stadionsprechers in Anfield verdiente den Ergänzungshinweis über die Anzahl der Rasenpfleger des 1892 gegründeten Vereins bis zu Klopps Amtsantritt: Drei! Noch ein Fragezeichen weg.
Restlos begeisternd ist die Erzählqualität ganz unten und ganz oben: Ein Traditionsderby in Cornwall zwischen einem aktuellen Elft- gegen einen Zehntligisten hier, die völlig bescheuerte Club-WM in Quatar dort. Das Telefonat Campinos mit der einzig in Frage kommenden Begleitperson über die Unverantwortlichkeit des Hinfliegens (Kerosinverbrauch, der Ort als solcher) und der beschlossene Hinflug als Resultat ist ebenso köstlich wie sein Erleben des Quatarischen Nationalfeiertags mit der historischen, d.h. zehn Jahre alten „Altstadt“ Dohas in der Hauptrolle. Sein Kommentar: So authentisch wie eine Meisterschaftsfeier von Manchester City (bitte bemerken Sie die inhaltlichen Bezüge).
Auch die Musiker-Karriere bleibt ein unfertiges Mosaikbild, was dem Lesegenuß absolut nicht schadet. Von den Vor- und Nachteilen des Prominentendaseins wie dem Erkanntwerden in der texanischen Wüste von einem ehemaligen Weggefährten (Vorteil) und am Flughafen von Neapel durch eine Gruppe deutscher Pauschalurlauber im Rentenalter (Nachteil); dem Eintreffen eines Jürgen Klopp zugeschickten Souvenirkartons zur Feier des Meistertitels (Vorteil) fünf Minuten vor dem Ende des entscheidenden Spiels (Nachteil wegen Störung durch den Postboten, wettgemacht durch Auflegen von Imagine, als wieder Ruhe herrscht); von dem schmalen Grat eines beinahe aus den Fugen geratenden Konzerts zur Heysel-Katastrophe 1985, von der Meldung der fürs Handbuch des nutzlosen Wissens bestens geeigneten Höchstgeschwindigkeiten der Bandmitglieder beim Skifahren bis zur Dauerpräsenz der Liebe zur Musik privat wie öffentlich: Der Sänger trifft den Ton.
Vor allem, wenn es um seine Familie geht. Die Rebellen-Attitüde des jungen Erwachsenen dem Vater gegenüber, seinerseits Wehrmachtssoldat, dann Jurist, dann CDU-Mitglied, weicht einem altersweisen Vergleich: „Der Krieg war gerade mal sechs Tage alt, aber es würde sechs Jahre dauern, bis mein Vater wieder aus ihm herauskam. Er war zwanzig, als er aus dem Straßengraben in Polen schrieb. Mit zwanzig habe ich die Toten Hosen gegründet und lag auch in Straßengräben, allerdings freiwillig und betrunken.“ Doch gibt es einen Unterschied: Vater Frege, sich aus dem Straßengraben in die Wirtschaftswunderwohnung hocharbeitend, agiert und reagiert, Vater Campino, sich aus dem Straßengraben auf Bühne, Hotelzimmer und Stadion hochsingend (und - saufend und - koksend) sinniert und reflektiert.
Am liebsten über die englischstämmige, hochgeschätzte Mutter (Ausnahme aus ganz jungen Jahren: „Du alte Sau“), deren Erfahrungen im Nachkriegsdeutschland nach der Heirat, das Fremdeln mit hiesigen Gewohnheiten (Weihnachtsessen samt Vorbestellung), Erziehungsmaßnahmen („it’s such a shame“) und gelegentlichem Heimweh nebst damit einhergehenden häufigen Verwandtenbesuchen. Die hatten bleibende Nachwirkungen für den Verfasser, kulminierend im feierlichen Akt, der ihn zum britischen Staatsbürger machte, wenig interessiert zur Kenntnis genommen vom eigenen Sohn, mit Triggerwarnung für Fans von Mr. J. Rotten hier auszugsweise wiedergegeben: „I, Andreas Frege […] will be faithful and bear true allegiance to Majesty Queen Elizabeth Second. […] I will give my loyalty to the United Kingdom and respect its rights and freedoms, I will uphold its democratic values […]“. Leider konnte der Rezensent nicht ermitteln, wer zu „Anarchy in the U.K.“-Zeiten britische Königin war, es hätten sich interessante Vergleiche ergeben. Nevermind…
Um noch zögernde Anhänger von Everton, Manchester United oder Reinhard Mey von der lohnenden Lektüre zu überzeugen: Werfen Sie einen Blick in das Kapitel „Burnley“. Im Herkunftsort des englischen Familienzweigs arbeitete sich Großvater John vom Fabrikarbeiter zum Redenhalter für die Labour Party hoch, mit Themen wie „Europa in der Krise“ und „Der wachsende Nationalsozialismus“, beide gehalten Ende der 1920er Jahre, vom Enkel hervorragend erzählt. Und nach der Anschaffung des Buches, Campino hält sich ja auch an die Chronologie, heben Sie sich das berührendste Kapitel für das Ende auf. Sie lesen dort von einem großen Auftritt Vater Freges in der dunkelsten Stunde der Toten Hosen und von einem Gänsehaut-Lied und seiner Wirkung auch in der dunkelsten nicht-selbstverschuldeten Stunde des Liverpool FC. So bekommt ein fantastisches Werk mit Überschrift und letztem Satz den adäquaten würdigen Abschluß: You’ll never walk alone. Noch Fragezeichen?
FRank Rüb, September 2022