Die Anfänge der Romantik in der Musik

Christiane Wiesenfeldt - Die Anfänge der Romantik in der Musik

Bürenreiter/Metzler-Verlag €39, 99

Der Beginn der Ära des Farbfernsehens wie der des Atomzeitalters läßt sich wegen Entstehung per Knopfdruck mit präziser Datumsangabe mitteilen. Schwieriger ist das bei kulturgeschichtlichen Fragen. So begann die Frühromantik, als die Spätaufklärung noch gar nicht fertig war, so erschienen Schillers Sturm-und-Drang-Räuber im gleichen Jahr wie die Kritik der reinen Vernunft.

Die durch Worte sich äußernde Romantik läßt sich immerhin durch ein Stammvokabular erkennen: Mond, Sterne, Nacht, Wald, Liebe, Sehnsucht, Ursprung, Vereinigung, etc. Ferner durch ein Stammvokabular, welches die Diskrepanz von Ausdrucksfähigkeit des Wortes und Unerreichbarkeit des zu Sagenden aufzeigt: unaussprechlich, unbewußt, unbestimmt, ungewiß, unmöglich.

Dies eine Sammlung aus dem Kapitel über romantisierende Beschreibungsversuche von Musik.

Zum Vergleich eine Auflistung aus Novalis’ „Hymne an die Nacht“: unaussprechlich, unsäglich, unsichtbar, unendlich, unbedingt.

Solche Verwandtschaften sind der Ausgangspunkt der von Wiesenfeldt vertretenen These, Romantik in der Musik sei entgegen verbreiterter Meinung kein Nachzügler verglichen mit Dichtung und Philosophie und die Autorin begibt sich auf die Suche nach Kompositionen, die dem neu auftretenden romantischen Reden über Musik bzw. musikalisch-romantischem Reden zu Grunde lagen oder zeitgleich zur Seite standen. Zentral ist für sie die Zeit um 1800 mit bis zu zwanzig Jahre zurückliegenden Wurzeln. Damit einher geht eine Sicht der Romantik (genauer wäre: Frühromantik) nicht als Gegenbewegung zur Aufklärung, sondern als an diese sich anschließende Erweiterung.

Sehr schön illustriert wird dies anhand der auf den eher linearen Fortschrittsglauben der Aufklärung folgenden beliebten Trias-Modelle der romantischen Denker. In der Philosophie geht die Bewegungsrichtung von dem paradiesischen Ausgangszustand über die entfremdende Vertreibung zur reflektierten Rückkehr, in die Kunst ist das Schöpfer, Kritiker und Rezipient verbindende Ziel: Transzendenz, Reflexion und Hörfreiheit. Auf unser Thema bezogen wird so aus Novalis’ Satz: „Der Leser ist der erweiterte Autor“ entsprechend: Der Hörer ist der erweiterte Komponist.

Ich hoffe, Sie sind in Form.

Beim Aufzeigen von Verbindungen der Wiener Klassik mit der nachfolgenden - oder eben gleichzeitigen - Epoche ist die Verfasserin jedenfalls in Hochform. Die mit fortschreitendem Werk subtiler werdende Haydn’sche Ironie scheint nur einen Schritt von der Romantischen entfernt, Mozart wurde beileibe nicht als apollinischer, ausgewogener Klassiker von seinen Zeitgenossen empfunden, seine Kompositionen gar als „überfüllt, bizarr, rauh“ bezeichnet und das Schlußkapitel über E. T. A. Hoffmanns berühmte romantisierende Rezension der fünften Symphonie Beethovens ist ein Hochgenuß.

Doch eben hier wird es problematisch. Aus rezensionstaktischen Gründen las ich das Ende zu Beginn und versah es mit der fragenden Randnotiz, ob romantische Kriterien denn ein Beleg für romantisches Komponieren seien? Und fand dann gut einem Drittel des Buches das Eingeständnis Christiane Wiesenfeldts: „Man muß kein romantischer, zeitgenössischer Autor sein, um romantisch beschrieben zu werden.“ Die folgenden Anmerkungen möchte ich angesichts des Kenntnisreichtums der Autorin und der der später zu würdigenden analytischen Fähigkeiten als hypothetische Einwürfe, Gegenfragen und Diskussionsangebote, nicht als Kritik verstanden wissen, frei nach Novalis: Der Leser ist der erweiterte Rezensent. Als sich durchziehender roter Faden der Einwände sei genannt, daß als spezifisch romantisch ausgewiesene Merkmale sich auch anderweitig finden und plausible Einzelbeispiele mit Gegenbeispielen konfrontiert werden können.

Die Genie-Konzeption der Romantik läßt sich in der geschilderten Weise Eins zu Eins auf die des Sturm und Drang übertragen. Die inhaltliche Aufwertung von Biographien gegenüber der Tradition findet sich ebenso in Goethes dezidiert anti-romantischen Lebensbeschreibung Winckelmanns und Hackerts, die Anreicherung selbiger mit Anekdoten geht bis auf Plutarch zurück. Die als romantisch konstatierte Spannung zwischen Freiheit und Ordnung ist hochgradig klassisch einschließlich der griechischen Tragödie. Wenn angeführt wird, daß in einem Atemzug Mozart und Shakespeare als Romantiker bezeichnet wurden, untermauert das nicht die These von der Gleichzeitigkeit der musikalischen Romantik. Vor allem aber das Fragment: Zwar hat zweifellos die Frühromantik Unabgeschlossenheit um ihrer selbst willen zum Qualitätsmerkmal erhoben, doch wäre zu ergänzen, daß es vom Erzromantiker Wagner keine Fragmente gibt, vom Feindbild Schiller aber sehr wohl und was für welche. Goethes so was von (mit Glück) vollendeter und mit demonstrativem „Finis“ beschlossener Faust enthält eine „klassisch-romantische Phantasmagorie“, während sein fantastisches Pandora-Fragment von Brief- und Musikfreund Zelter mit den Zuschreibungen „Gesundheit, Fülle, Gedanken mit Muskeln“ charakterisiert wird - Novalis wäre aus den Latschen gekippt, hätte er sie noch angehabt. Und wenn die Aufwertung des langsamen Satzes eines Werkes romantisch ist, ist Bach Romantiker und der zweite Satz seines ersten Brandenburgischen Konzerts eine vertonte Friedrich-Schlegel-Gesamtausgabe. Dagegen wird das meines Wissens akzeptierte Unterscheidungsmerkmal zwischen klassischer und romantischer Durchführung - motivische, dramatische Verdichtung bei Ersterer, flächige Atmosphäre bei Letzterer - nicht erwähnt.

Drei handfeste Schnitzer müssen noch vermerkt werden. Kapitel zwei beginnt mit Goethes Verdiensten um Mozart in Weimar und endet mit seiner Apostrophierung als unmusikalisch. In Kapitel sieben ist von historischem Interesse an Geschichte die Rede - oder war es umgekehrt? In Kapitel acht werden Unruhe, Ablenkung und Härte als nicht idyllisch vermerkt - nun, die Impfquote unter Corona-Leugnern soll ja auch ziemlich niedrig sein.

Nun zu den beiden thematischen Glanzstücken des Bandes, beide zahlreich vorhanden. Da wären die Interpretationen der abgedruckten Notenbeispiele. Eine Lehrstunde über genaues Hinsehen und -hören, von der Beachtung von Unregelmäßigkeiten in den Perioden, tonalen Unbestimmtheiten, der Beziehung zwischen Liedstimme und Begleitung, der Fragilität regelkonformer Schlusswendungen, wenn sie auffällig kurz sind und ein (nur in der Partitur sichtbares) Pausenzeichen das Stück beendet. Vor soviel Fachkompetenz sei der imaginäre Hut gezogen, vielleicht könnte die Verfasserin die Stichhaltigkeit meiner Argumentation in Grund in Boden stampfen samt Hut - was durchaus nicht romantisch wäre, frühromantisch aber sehr wohl (mit Ironie kommt man immer durch).

Dann sind da noch die wunderbaren, Lust auf mehr machenden Auszüge aus Texten der literarischen Protagonisten - eine zwingende Aufforderung zum Weiterlesen. Den Beginn einer wohl unfreiwillig zum Selbstlob werdenden Trias musikbeschreibender Sprache macht der nahe am Wasser gebaute Ludwig Tieck (Beim Anblick der singenden Bettine von Armin in Tränen der Rührung auszubrechen dürfte jedoch nicht spezifisch romantisch, vielmehr eine anthropologische Konstante sein). Seine Sätze zu einem Musikstück, die Ausweis überdurchschnittlicher Kenntnisse sein sollen, sind allerdings dichterisch-ästhetisch wunderschön, jedoch kaum sachbezogen. Auch der mit den gleichen Meriten versehene folgende Tieck-Freund Wackenroder ahmt zwar den Verlauf eines Sonatensatzes nach, ohne aber fachliche Details anzuführen. Erst der dritte Text bietet eine vollendete Symbiose von Wissen und Ausdruckskraft: „Salieris Ouvertüre macht … viele Angebote, Neues zu hören: sei es die trotz monothematischem Gestus gradezu enorme Vielseitigkeit an harmonischen und dynamischen Kleidern, die das Thema überstreift und damit ein Labyrinth von spielerischer Leichtigkeit und abschattierter Nachdenklichkeit durchschreitet, sei es die Mischung aus elegischen Fragegesten, von denen nicht wenige unbeantwortet bleiben und den Hörer stattdessen in rasend abstürzende Arpeggienketten hineinwerfen, ganz so, als sei im tiefen Streichergebrummel da unten eine Antwort zu finden. ,Mitreißend' ist ein gutes Wort, um die Wirkung der Ouvertüre zu beschreiben, sie schleudert den Hörer gleichsam in den ersten Akt hinein, und kann erstmals in ihren gedehnten Schlußakkorden aufatmen.“

Das ist perfekt und zeigt, unabhängig davon, welche Romantik wie alt ist, daß sie lebt, denn so schreibt Wiesenfeldt persönlich. Zum humorvollen Kehraus (in der Tradition Haydns) eine Anekdote (in der Tradition Plutarchs): Eine Dreier-Kette aus dem Kultur-Rundfunk. Ein Interview mit der Direktorin des Romantik-Museums mit drei Musikwünschen endete nach Mondscheinsonate und Faust-Vertonung Robert Schumanns mit Led Zeppelin. Die Parallelen zum zuvor zitierten wohl berühmtesten romantischen Gedicht waren frappierend. Schläft ein Lied in allen Dingen / and it’s whispered that soon / die da träumen fort und fort / and a new day will dawn / und die Welt hebt an zu singen / if we all call the tune / triffst du nur das Zauberwort / with a word she can get what she came for. Und für eine Trias aus Stammvokabular (1), Reflexion (2) und Ironie (3) genügt Robert Freiherr von Plant eine einzige Zeile: And the forests (1) will echo (2) with laughter (3

 

Rezension:  Frank Rüb, Mai 2023