Alexander Gorkow - Die Kinder hören Pink Floyd

Alexander Gorkow- Die Kinder hören Pink Floyd.

Roman Kiepenheuer & Witsch-Verlag € 20,-

 

Um sich Genese und Gemengelage der geistigen Situation der Bundesrepublik in den siebziger Jahren zu vergegenwärtigen, lese man die Autobiographien von Günther Grass, Marcel Reich-Ranicki und Joachim Fest mit besonderem Augenmerk auf die jeweilige Jugendzeit. Hier ist zunächst der rebellionshalber Faschismusfaszinierte, spätere Schriftsteller, SPD-Wahlkämpfer und Moralinstanz, dann der Dank guter Deutschkenntnisse und polnischen Wagemuts Holocaust-Überlebende, spätere Literaturkritiker, Antisemitismus-Wächter und Klassikinstanz, schließlich der Verehrer bildungsbürgerlichen Anstandes im Dritten Reich, spätere Feuilletonist, Hitler-Biograph und Stilinstanz.

Wie es sich anfühlte, in diesem Klima jung gewesen zu sein, schildert der für die Süddeutsche Zeitung tätige, 1966 geborene Journalist Alexander Gorkow in seinem neu erschienenen autobiographischen Roman. In den wesentlichen Teilen Mitte der siebziger Jahre in einer Düsseldorfer Vorstadt spielend, lernt das jüngste Mitglied einer vierköpfigen Familie hellwach beobachtend eher die ungeistige Situation der Bundesrepublik kennen: brutale Mitschüler, pädagogische und psychologische Grobheiten, schräge Wichtigtuer und reihenweise Kleinbürgermief. Aber auch die aufkommende Gegenkultur, die die oben genannten drei Herren nicht sonderlich interessierte: nicht jugendfreie Horrorfilme, eine nicht jugendfreie, obwohl selber jugendliche Sekretärin, die männliche Musiker als Sexobjekte betrachtet und, eingeweiht von der conterganbedingt herzkranken sechs Jahre älteren Schwester, die „vier ernsten Männer, die alles verstanden haben“, besser bekannt unter dem Namen Pink Floyd.

Nach minimalen Startschwierigkeiten- die Bedeutung der Gruppe für das Buch wird eher eingetrichtert denn eingeführt und die erste um Originalität bemühte Formulierung missrät (…in der Schule kriecht Müdigkeit aus schwerem Eisen heran)- zündet Gorkow ein Feuerwerk aus pointierten Szenen. Schule, Eltern, Nachbarschaft, ZDF-Hitparade mit Heck und Heino bilden die öde Wüste nebst mancher Oase, Dark Side of the Moon die Pyramide nebst Herzschlag.

Alle noch folgende Detailkritik ändert nichts an der Lesefreude, die dieses prismenfarbenfrohe Mosaik bietet, aber manches muss thematisiert werden. Einmal geht der Vater in den Garten „während Gilmour zum ersten Mal Breathe in the air ruft“, aber das nahende Flugzeug kann er nicht hören, „denn Gilmour und der Chor rufen listen son, said the man with the gun…“. (Wieso eigentlich „ruft“ und „rufen“. Auf dem Plattencover steht unter David Gilmour ausdrücklich „Vocals“, nicht „Calls“!) Gibt es Häuser, die 25 Minuten vom Garten entfernt sind, oder waren die Plattenspieler früher einfach schneller?

Letzteres wohl kaum, wie eine der schönsten Erzählsequenzen zeigt, die Wohnzimmer-Uraufführung der endlich eingetroffenen „Wish You were here“ auf der väterlichen Thorens/ Marantz/ Rogers-Anlage. Auch hier leider einige Unstimmigkeiten: Der zehnjährige Alexander hört, dass die Platte in g-Moll beginnt, aber Gilmour „addiert sich…mit seiner Gitarre ins Lied“ mit „Viermal die vier Töne“- wer spielt denn das tieftraurige Solo? Der junge Enthusiast benennt auf die Sekunde den Riss in Have a Cigar- zelebriert man Schwärmerisches mit Stoppuhr?

Der skizzierte Charakter Gorkow Seniors verdiente einen eigenen ausführlichen Roman. Geboren in der Sowjetunion, Kindheit zur Zeit der Millionen Hungertoten, große Lücke. Im Buche ein störanfälliger Pedant, giftsprühender Kleingärtner, fortschrittsgläubig („Der Topf kann nicht explodieren“) und einsichtig (Die Explosion des Topfes ist offenkundig nicht zu leugnen), Hi-Fi Liebhaber und Jazz-Kenner, Patriarch und Antinationalist, wenig arbeitend und gut verdienend, Rainer Barzel lesend und verachtend, und dem Pfarrer, der seinem Sohn wegen Zweifeln an der Paradiesgeschichte zwei Ohrfeigen verpasst, demonstrierend, dass er mindestens bis zum Buch Leviticus weiter gelesen hat: Im Pfarrhaus verabreicht er Feige um Feige, Ohr um Ohr.

Beim inhaltlich ertragreichsten Kapitel schlägt er sich (hier natürlich nur bildlich gesprochen) ebenso tapfer in der großen Debatte mit seiner Tochter, die mit ihrer sozialistischen Oberstufengruppe „Solidaritätspakete für die politischen Gefangenen in Stammheim“ versendet und Pink Floyd im Kampf für eine bessere Gesellschaft anstelle der gerade verhinderten Baader/ Meinhof sieht. Er gibt zu bedenken, dass bei 100.000 potentiellen Konzertbesuchern und 7000 verfügbaren Plätzen den „Bullen“ (ugs. Polizisten) eine wichtige, lebensrettende Funktion zukäme.

Die Diskussion entzündet sich übrigens an einem Leitartikel des frisch berufenen FAZ-Herausgebers Johann Georg Reißmüller, seiner strammkonservativen Haltung halber von Alexanders Schwester „Reichsmüller“ genannt, vom Vater als Balkan-Korrespondent und Kenner Titos geschätzt. Eineinhalb Jahrzehnte später leitartikelte er fast im Alleingang die Anerkennung des selbstständigen Kroatien herbei und legte langfristig das Fundament für die Entlassung von Bundestrainer Voigts. Unbestätigten Gerüchten zufolge soll nach dem 3 : 0 bei der WM 1998 in der Kabine der siegreichen kroatischen Mannschaft gegen die bis zum Platzverweis mindestens gleichwertige deutsche Elf, bzw. Zehn, stundenlang gesungen worden sein, „Waiting for the Wörns“.

Die Urfassung hörten die Geschwister 1981 in der Westfalenhalle live, zugleich der Schwester letztes Lebenszeichen. Die Auflösung seiner Lieblingsgruppe erlebte der Autor noch passiv, im Gegensatz zur Auflösung Jugoslawiens war auch „Reichsmüller“ gänzlich unbeteiligt, Empire-Maggie höchstens indirekt.

Britannia rules the waves

But the Waters rules the wall

Say the Ricks and the Nicks and the Daves

The lunatic is in the hall.

Als Journalist hat Gorkow dann, wie im letzten Kapitel geschildert, Zugang zu sämtlichen Mitgliedern. Zugang überallhin hat der herrlich introvertiert beschriebene Rick Wright in der Alten Oper Frankfurt, wie ein Buchstabenkürzel samt Namensschild, das er um den Hals trägt, andeutet, sogar zur Bühne, was ungemein praktisch ist, denn genau da muß er nach kurzem Gespräch auch hin. Zwei Jahre später stirbt er.

Quicklebendig dagegen die schwierigste Person: Roger Abu Waters trägt im Konzert statt SS-Ledermantel nun ein Palästinensertuch und wettert unerträglich gegen Israel, bevor er Comfortably Numb anstimmt, wie einst, was Gorkow nicht sagt, ein früherer Opernkomponist mit den Initialen R.W. gegen das Judentum, bevor er den Karfreitagszauber niederschreibt. Gorkow boykottiert den Besuch in München, wird aber von Waters Manager zum Interview gebeten. Dieses wurde im SZ-Magazin abgedruckt, hier gibt es die Rahmenhandlung im Bayrischen Hof, Penthouse Garden-Suite, 350 qm, Übernachtung 15.000 Euro, Kampf gegen das Establishment. Waters war zuvor am Grabe Sophie Scholls und ist aufgeräumt, Gorkow bleibt moralisch integer und holt den Konzertbesuch anderswo nach. Reichsmüller ist Geschichte, die Intellektuellen des ersten Absatzes ebenso, die Gegenwärtigen machen hoffentlich auf diesem Niveau weiter. Und wie ein Althistoriker kürzlich sagte, keinem Zeitgenossen der Völkerwanderung wäre bewusst gewesen, er lebe in der Zeit der Völkerwanderung, hätte der kleine Alexander große Augen gemacht, sagte ihm jemand, er wachse mit all den erwähnten Persönlichkeiten im „sozialliberalen Jahrzehnt“ auf. Wann stellen wir uns der hemmungslos untertreibenden Lebenslüge, es habe damals lumpige zwei Deutschland gegeben?

Rezensent: Frank Rüb

September 2021