Judith Holofernes - Die Träume anderer Leute
Kiepenheuer & Witsch Verlag €14,-

Rezension von Frank Rüb


Guten Tag. Als Kontrast zur wiederkehrenden, vom Rezensenten geteilten, Klage über Qualitäts-,Authentizität- und Relevanzverfall in der Rockmusik besprechen wir hier die Autobiografie einer
Künstlerin des 21. Jahrhunderts. Um es vorweg zu sagen: Trotz Parallelen hinsichtlich der Funktion als textlicher Zeitgeistbombe ist, war und wird die „Reklamation“ keine „Satisfaktion“, „Generation“
oder „Revolution“. Eine solche Erwartung wäre auch höchst ahistorisch. Mein eigener Geschmackskonservatismus
lässt als unübertroffene (und wohl auch -treffliche) Blütezeit die Jahre 1963-79 gelten (Please Please me bis The Wall) aber diese Haltung wird ihrerseits progressiv,
wenn ich diese (englische) Musikepoche als gleichwertig mit meinen weiteren kulturellen Favoriten erachte: griechische antike, italienische Renaissance, deutsche Klassik. Und zu denen steht die
Autorin in Verbindung: zyklisches pessimistisches Weltbild - „Am besten ist, nicht geboren zu werden“ (Sophokles) – gegen eingeforderte lineare Selbstverwirklichung – „Ich will mein Leben
zurück“; neben den Herrn Botticelli, Giorgione und Michelangelo die resolute Malerin Artemisia  Gentileschi mit ihren blutüberströmten Hauptwerk „Judith enthauptet Holofernes“; schließlich eine
kongeniale Persiflage auf Schillers „Ode an die Freude“, die unter Bewahrung des Reims jeweils einen idealistischen Klassik-Vers mit Widerstand gegen spießbürgerliche Erwartungen kontert:
„Freude, schöner Götterfunken, Tochter mach Dein Praktikum…“.

Das Kontern von Erwartungen, mit glänzenden Spielzügen und einigen Eigentoren, zieht sich als Leitmotiv durch Holofernes’ Karriere. Während des Studiums erworbene Einblicke in die Reklamebranche
bringen ihrer Gruppe „Wir sind Helden“ mit den erwähnten „Reklamation“ einen sofortigen Überraschungserfolg. Drei weitere Alben, begleitet von Liebe zum bandeigenen
Schlagzeuger nebst Geburt zweier Kinder (von ebendiesem, die wilden Sechziger sind vorbei), die am Touralltag teilnehmen, bilden die Ausgangslage des Buches. Die aus der Doppelbelastung als
Rockstar und Mutter resultierende körperliche Anfälligkeit lässt Holofernes während eines Konzerts im reichlich lädierten Zustand noch einmal alles geben und leitet dadurch das Aufgeben ein.
Großartig erzählt, mit Situationskomik und reihenweise gelungen Formulierungen: „Ich konnte Sonnenlicht in mein eigenes Herz grinsen“; das Publikum „jubelt mit Fragezeichen“ - und lakonisch
über den Zusammenhang zwischen Lebensstil und Sprachentwicklung des eigenen Kindes: „Sein erstes Wort war Auto.“

Der Schwung der Sängerin auf der Bühne bricht in sich zusammen, nicht so der der Erzählerin bei Erholungs- und Therapieversuchen, vom Entspannungshotelaufenthalt in Berlin, wo ihr unversehens
die nur mit Handtüchern begleitete Nationalmannschaft entgegenkommt, angeführt von einem (ihre berühmteste Textzeile zitierenden?) „Guten Tag“-wünschenden Manuel Neuer, bis zum
Familienurlaub auf Teneriffa, wo Mutter Holofernes auf der Fähre die Herausforderung eines sie umgebenden „Kotzinfernos“ dank begleitendem Naturschauspiel stoisch meistert: „Mir hingegen
ging es gut. In einem Moment zwischen den töchterlichen Outfit-Wechseln hatte ich Wale gesehen.“

Die Tatsache, dass sämtliche Einschübe wie Interviewtermine, Kindheitsrückblicke, musikalische Vorbilder, Bandgründung, Rolle als musikalisches Vorbild und Ende der Gruppe – zur Fanberuhigung
als „Pause“ deklariert – ebenso flott erzählt, richtig dosiert und dramaturgisch passend platziert sind, macht hinsichtlich der sich einstellenden Schwächephase des Buches erst nachsichtig,
dann ungeduldig und schließlich unwillig; persönliche Probleme (Gewichtsschwankungen: hoch, runter, hoch, runter, hoch, hoch, runter, runter, usw.) werden ebenso wie der Entstehungsprozess
des ersten Soloalbums zu breit (pardon wegen der Gewichtsschwankungen) ausgewalzt und bei Lektürevorlieben wie Musikwahrnehmung stellt sich bald der Verdacht des Namedropping ein.
Was konstant bleibt, ist eine erfreuliche Aufrichtigkeit, die vom Eingeständnis des Widerspruches einer sich als basisdemokratisch verstehende Band mit einer Frontsängerin/Songtexterin/Hauptkomponistin,
die als persönliches Vorbild den ultrabescheidenen, egalitären und bühnenscheuen David Bowie nennt, die komplette Erzählung durchzieht.

Doch zurück zur Unwilligkeit: den Rezessionsabbruch verhindert hat – Helene Fischer, ihr bisher  wichtigster, wenn auch einziger Beitrag zur Musikgeschichte. Größer als der Spott ist
Holofernes’ (siehe oben) aufrichtiges Entsetzen über den Auftritt seichtesten Schlagerpops oder  Popschlagers anlässlich gemeinsamer Anwesenheit bei der „Echo“-Preisverleihung. Authentizität
ist schwer positiv zu beschreiben, die umstandslose Erkennung von Nichtauthentizität samt völliger substanzlose ein sicherer erster Schritt. Jedenfalls veranlasst dieses Schockerlebnis die Autorin
zur Wiedergewinnung des schriftstellerischen Anfangsqualität ihres Werkes und wird auch persönlich erfolgreich durch den anschließenden Besuch eines Paddy-Smith-Konzertes.
Der folgende Abschnitt über die von Krankheiten überschattete Kindheit erreicht dann sogar Ähnlichkeit mit der wunderbaren Sprachkraft der „Rico + Oskar“-Jugendbücher von Andreas Steinhöfel
– dringende Lese- oder Schenkempfehlung, wenn Sie die nicht kennen. Die Diskrepanz zwischen persönlichem Erleben der ersten Solotournee und finanziellem Misserfolg führt nach einem
meditativ-ekstatischen „Nichtstun“-Zustand zur Kontaktaufnahme mit einem geschätzten Kollegen samt Besuch auf den Färöer-Inseln. Rauschhaftes gemeinsames Komponieren, Abgeschiedenheitsgenuss
und unangemeldetes Eindringen einer fröhlichen Hippiemetalkommune sorgen für Nachhall: „Zu Hause war ich für zwei Wochen im Schock darüber, wie glücklich ich sein konnte.“

Dieses Gefühl kann zunächst konserviert und auf andere Kreativitäts-Kanäle geleitet werden, Holofernes schreibt ein Buch mit Tiergedichten und fühlt sich als Buchhandlungsliebhaberin auf der
die Veröffentlichung begleitenden Lesereise pudelwohl. Die Lebensfährte ist gelegt, bis zur Realisierung muss aber die Krise noch einmal kumulieren.
Selbstzweifel, Schwierigkeiten mit der zweiten Soloplatte, Partnerschafftsspannungen und eine Empfindlichkeit, die beim Lesen larmoyant wirkte, käme nicht tatsächlich eine lebensbedrohende
Diagnose, münden in einen letzten Rockstar-Versuch in Form einer Teilnahme an der bekannten, offen gesagt: dem Rezensenten völlig unbekannten, „Sing meinen Song“-Show in Südafrika. Zwei
pikante Details hierzu: Zwei Tage nach Beendigung der Lektüre stoße ich beim Blättern auf die aktuelle Übertragung im Fernsehen mit Peter Maffay in der Hauptrolle… Gravierender aber, dass
die Autorin mit aufrichtigem (siehe oben) und mindestens fahrlässigem Egoismus die Reise trotz schwerer Erkrankung des Partners alleine antritt und zusammen mit der Flucht vor persönlicher
Überforderung auch genießt.
Das Maß des Verrats am eigenen Selbst ist nun allerdings voll. Nicht so das Maß des Ausnutzens der durch ebendiesen Verrat erworbenen finanziellen Unabhängigkeit: „Aber gibt es Peinlicheres
als ein Privileg, das man nicht in Freiheit verwandelt?“
Holofernes wählt die moderne Variante des Mäzenatentums, zu neudeutsch „Crowdfunding“, ich gestehe (aufrichtig), dass mir diese Art der marktlosen Vermarktung mittels selbstgeschaffener
(Seifen- ?) Blase völlig fremd ist und auch nicht vertrauter wird, wenn die Autorin angibt, dass die von mir als schwach empfundene Passage über ihre Studiotätigkeit von ihrer vorab mitlesenden
Schwarmintelligenz initiiert wurde. Die Konformität des Nonkonformismus scheint nicht zu ihren zahllosen Selbstzweifeln zu gehören und die Mär vom originellen Neubeginn hat Mark Knopfler
auf zeitlose Weise dekonstruiert: „and the dirty old track was the telegraph road“.
Mit Klagen über die Zwänge der Musikindustrie ließ sich ebenfalls schon viel Geld (mit hervorragender Musik) verdienen und das Fehlen von Druck mag ein angenehmer Zustand sein, aber die
Liste der Kunstwerke, die durch selbigen entstanden, dürfte konkurrenzlos lang sein, von der Qualitätsfrage ganz abgesehen. Über Holofernes’ hypothetische Verknüpfung mit den im Alter von
27 Jahren verstorben Musiklegenden lesen wir, um kurz vor dem Ende nicht doch noch den Rezessionsabbruch aus Pietät herbeizuführen, dezent weg. Außerdem: was uns nicht umbringt,
macht uns älter.
Wirkungsvoller dürften sowieso die unfreiwilligen Kritiken auf dem Buche selbst sein: Die Verweigerungshaltung veröffentlicht ein großer Publikumsverlag mit handelsüblichen „Spiegel-Bestseller“-
Kleber auf dem Cover, die Überschätzung der eigenen Bedeutung als Musikerin durch fragwürdige Vergleiche konterkariert eine auf der Rückseite abgedruckte Besprechung: „Je mehr
Sprachkunst aus den Seiten purzelt, desto klarer wird, dass Judith Holofernes nur zufällig zwischendurch ein Rockstar war. Eigentlich war und ist sie eine irrsinnig gute Autorin.“

Mein persönlicher Rat: Beschaffen Sie sich sämtliche griechische Tragödien, einen schönen Renaissance-Kunstband und eine Sammlung Schiller-Gedichte, sparen Sie nicht an einer Plattenauswahl
britischer Rockmusik aus dem genannten Zeitraum und legen Sie noch eine Kleinigkeit für den Erwerb des rezensierten Werkes obendrauf. Wenn Sie jetzt denken, dafür bekomme ich ja
zusammengenommen eine Karte für Taylor Swift, dann… Gute Nacht.

Rezension: Frank Rüb