Gewinnspiel:
Der Rezensent hat diese Besprechung aufgebaut wie einen mustergültigen Sonantensatz.
Wer das als erste/r richtig erkennt und uns per email oder Brief mitteilt, erhält das Rezensionsexemplar
des Buches geschenkt. Siehe auch Hinweis am Ende des Textes.
Hans-Josef Irmen - Joseph Haydn. Leben und Werk
Böhlau-Verlag. €35,-
Fachsimpeln Liebhaber der Symphonie über die Fünfte oder die Neunte, sind keine weiteren Präzisierungen
zur Identifikation, wovon die Rede ist, nötig. Alban Berg stufte Gustav Mahlers sechste
als Gipfelwerk ein, aber mit dem Hinweis, trotz Beethovens Sechster. Dessen Dritte würde der
Rezensent als würdig erachten, mit dem Referenzattribut „die“ Symphonie überhaupt versehen zu
werden. Doch gemach, wir bewegen uns im einstelligen Bereich, wo die Luft noch nicht gar so
dünn ist. Bis Nummer 15 kämpft Genosse Schostakowitsch tapfer um die Krone mit, danach ist
das 18. Jahrhundert unter sich. Zwar gehen die Nummern 38 bis 41 ohne Widerspruch an Mozart,
doch Krafteinteilung und Ausdauer sehen anders aus: „Die“ 42ste bis zu „der“ 104sten - Joseph
Hayden Superstar.
Und bezüglich Breite des Wissens und Tiefe der Einsicht haben wir vorliegen: „die“ Hayden-Biographie.
Was der Verfasser Hans-Josef Irmen hier auftischt ist ganz große Kunst. Als Stationen
eines langen Lebens (1732-1809) durchlaufen wir die Kindheit des Sohnes eines Wagenbauers,
das Leben am Hofe Maria Theresias, absolutistische Strukturen nebst aufklärerischer Einsprengsel,
den Amtsantritt bei Familie Esterházy, Hayden als Freimaurer und selbstbewußte bürgerliche
Persönlichkeit mit stetig wachsendem Ruhm. Als Stationen einer Musikerkarriere (1737-1808)
durchlaufen wir die Entdeckung eines Gesangstalents in frühen Jahren, das im zarten Alter als
Chorknabe nach Wien kommt, sein Kompositionstalent entdeckt und erweitert, in fürstliche
Dienste tritt und dabei gewaltfrei und zwanglos Althergebrachtem seinen individuellen Stempel
aufdrückt, Schloß Esterháza Richtung Paris und London verläßt, um dort Triumphe zu feiern und
höchste Meisterschaft zu erreichen, Freundschaft mit Mozart und lehrende Bekanntschaft mit
Beethoven schließt und zum glanzvollen Finale sein öffentliches Auftreten mit dem umjubelten
Besuch einer Aufführung seiner „Schöpfung“ beendet.
Die souveräne Bildung, mit der Irmen loslegt, Panoramaüberblick wie subtiles Detail beherrscht,
beschert ein Lesevergnügen ersten Ranges. Haydns Handwerker-Herkunft aus einer Wagenbauer-
Familie wird anhand der Herstellung eines Speichenrades meisterhaft mit seiner späteren Tätigkeit
verknüpft: „Ist das Einzelne in Arbeit, bleibt das Ganze im Auge… Was tut ein Komponist anders?“
Nicht weniger Kompetent die Beschreibung des Lebens am kaiserlichen Hofe, mit Ironisierungsfinessen
der Adelswelt durch pointierte Reihung nüchterner Fakten. Und mittendrin ein
Hauch Frühaufklärung durch Individualität, Auffassungsgabe und Talent des Musikschülers und
Chorknaben Haydn. Zu seinem Lehrer, Domkapellmeister Reutter, weiß der kundige und akribische
Biograph im Gegensatz zu seinen Vorgängern viel Positives zu sagen, zum gebräuchlichen
Umgang mit reifenden Jungen bei drohendem Stimmbruch folgt ein Kapitel der Extraklasse.
Haydn hat Glück und wird nicht, wie es hieß, „sopranisiert“ und zeigt kompositorisch schnell, was
er kann, verdeutlicht mit erhellenden Notenspielen.
Die jahrzehntelange Anstellung im Fürstendienst auf Schloß Esterháza läßt Haydn Verträge unterzeichnen
und einhalten, die Beethoven Presto con fuoco in zweiunddreißigstel-Fetzen zerrissen
hätte, doch unser sanftes Genie gehorchte und wehrt sich mit feinster Pädagogik und stetiger
musikalischer Weiterentwicklung, seiner selbst und seines Umfeldes, einschließlich seiner Durchlaucht
höchstselbst. Seine sublime Vorgehensweise umfaßt sogar die Art des Schuldenmachens,
vielleicht ein genetischer Unterschied zwischen Wagenbauer und Wagner.
Dessen vom Publikum unbemerktes Hinabsteigen in den Orchestergraben nebst Dirigatübernahme
bei seiner letzten Beiwohnung einer Parsifal-Aufführung steht in schönem Kontrast zur warmherzig
beschriebenen erwähnten Huldigung ein Jahr vor dem Tod bei Haydns Abschied vom Konzertleben.
Daneben gibt es bei den beiden Alterswerken eine erstaunliche Parallele betreffs Publikumsverunsicherung
wegen partiellem Klatschverbot.
Die Analyse der „Schöpfung“ läßt verschmerzen, daß die großen letzten Symphonien etwas zu
kurz kommen, das kann man anderswo nachlesen und sich stattdessen der außermusikalischen
Qualität des entsprechenden London-Kapitels erfreuen. Was und wie der Autor von Haydns Freimaurer-
Loge erzählt, erzeugt einen Verdacht, so hervorragend sind die Intimkenntnisse und so
deutlich die Sympathie…
Überschauen wir die beiden Hauptthemen Leben und Werk noch einmal getrennt, (Vorsicht: Erster
Hinweis auf die Schlußpointe) lernen wir anhand des Werdeganges des Porträtierten eine Zeit
kennen, in der Herrscher die Einhaltung der erlassenen Sitten und Gebräuche einfordern (von den
Untertanen) und Ausnahmen läßlich dulden (bei sich selbst). Diese Kombination scheint in Verbindung
mit derjenigen von gewünschter Repräsentation und beanspruchter Privatheit einen Türspalt
für den gesellschaftlichen Aufstieg einzelner, deren Fähigkeiten zur Erfüllung der Ansprüche nötig
waren, geöffnet zu haben. Und wäre doch die daraus resultierende Interaktion zwischen Oberschicht
und Emporkömmlingen häufiger so einsichtig gewesen wie bei dem Bankier Nathaniel
Brassey und seinem mit Komponier-Refugium ausgestatteten Gast Haydn, der von dessen Klage
(!) erzählte, „daß es Ihme zu gut auf dieser weld gienge“ und später präzisierte, wie Irmen anfügt,
„sein spleeniger Gastgeber habe damals, als er von den nicht immer leichten Lebensumständen
des Komponisten erfahren habe, unter kräftigsten Schwüren beteuert, sich erschießen zu wollen,
weil er nie unglücklich gewesen sei, Kummer, Elend und Not nicht kenne, aber dennoch unzufrieden
sei, denn er könne nur fressen und saufen, kenne nur den Überfluß, und dafür ekle ihn.“ Monsier
Robespierre, packen Sie bitte die Guillotine weg und kaufen sich stattdessen ein Notenheft.
Was Haydn mit einem solchen zu fabrizieren wußte, woher er es hatte und wohin es führte, beschreibt
Irmen demgemäß als stetige Entwicklung inklusive enormen Hintergrundwissen (des Biographen
wie des Biographierten) über zeitgenössische Dirigiergewohnheiten, Instrumentenbeschaffenheit,
Detailversessenheit in den Spielanweisungen und Aufführungspraxis. Der „Vater der
Symphonie“ war selbst Kind und wurde Großvater und mehr, die Linie reicht, um nur die Eckpunkte
zu nennen, von den Bachs zu Beethoven und Brahms. Haydn sagt es in einem angeführten berühmten
Zitat auch selbst, indem er für die Gelegenheit dankbar ist, „original (zu) werden“, also
nicht „zu sein“ - keine „creatio ex nihilo“ (Schöpfung aus dem Nichts), vielmehr eine „creatio ex
evolutio“.
Die grade sich vollziehende Symbiose zwischen Autor und Rezensent diene als Überleitung zum
Abschluß (Vorsicht: Zweiter Hinweis auf die Schlußpointe). Der Biograph flicht schon mal ein unübersetztes
„ex abundatia cordis“, „absentibus verbis“ und eine Kapitelüberschrift „Remedur alter
Battuten“ ein. Des Weiteren warten erklärungsfrei „Pönitenten“, „Essentialkapellen“, „Epistel-Seiten“,
„kanzellierte Paginae“ und „Schnadehüpfeln“ auf, was vom geneigten Leser als Illustration
des zeitlichen und lebensweltlichen Abstandes aufgefaßt werden mag. Erläuterungen finden sich
an vergleichsweise harmloser Stelle - man nannte den jungen Haydn „Sepperl“ und „Hansi-Sepperl“,
Irmchen fügt hinzu: Wiener Diminutivform von „Joseph“. Geht doch!
Umwerfend gelungen und eine tolle Ergänzung zum vor zwei Jahren besprochenen Band „Musikphilosophie
zur Einführung“ ist das knappe und dichte Musikästhetik-Kapitel und die darauf folgende
Gegenüberstellung einer alten raunenden deutschtümelnden Klassikdefinition mit einer Eigenen
unverkrampften: Gegenwartsforschung weist reaktionäre Tradition wie postmodernen Kulturrelativismus
hochüberlegen in die Schranken.
Drei kleine Wermutstropfen sind das Auslassen der Reaktion Haydns auf Mozarts Tod, das Fehlen
des für seine Komponierweise wichtigen Begriffs „Scheinreprise“ und das ausbleibende Beleuchten
der subversiven Spielanweisung zum eigentlich feudalistischen Einschub für Haydns Impresario
mit solistischen Fähigkeiten in Symphonie Nr. 97: „Salomon solo, ma piano“. Ein Meisterstück
dezenten Aufbegehrens!
Manchmal ärgerlich sind die vielen Druckfehler, die beim Buchstaben S die Grammatik verunklaren
und mindestens beim zweimal erwähnten Friedensschluß von „Campoformido“ 1797 keine
Druck-, sondern schlicht Fehler sind, das d muß weg. Vielleicht waren Verfasser und Lektorat gerade
zerstreut beim Hören „der“ 120sten von Haydns Zeitgenossen und Symphoniequantitätsrekordhalter
Dittersdorf. Dafür verstand die Wiener Klassik mehr vom mustergültigen Sonatensatz:
Einleitung, Exposition zweier kontrastierender Themen, Durchführung mit Kombination und Variation,
Reprise der Exposition mit Elementen aus der Durchführung angereichert und Coda. Dem
entspricht beileibe nicht jede klassische Symphonie, wohl aber der Aufbau dieser Besprechung,
wer im Klangstudio als Erster die Teile korrekt angibt, erhält das Rezensionsexemplar kostenlos.