Schallplatten-Jahrbuch 1, Klassiker Auslese

Ulrich Schreiber - Schallplatten-Jahrbuch 1, Klassiker Auslese

G. Braun-Verlag, 1973, nur noch antiquarisch erhältlich

So richtig rosig sind die Zeiten nicht. Rohstoffknappheit und Inflation in den hiesigen Gefilden, weltweit Krisenherde mit Krieg, Hunger, Dekolonisierungsnachwehen und wildgewordenen Potentaten nebst militärischem Säbelrasseln - es ist zum rückwärts davonlaufen. Bringt aber nichts, bzw. ist schon geschehen, die Rede ist vom Erscheinungsjahr des hier besprochenen Bandes von 1973. Von der Verdopplung des Rückzugszeitraums bis 1923 ist erst recht abzuraten,man möchte ja nicht zum Kauf von Büchern animieren, deren Anschaffung das Konto um einige Billionen erleichtert. Bleiben wir also bei 1973 und suchen nach Lichtblicken. Der Liebhaber elaborierter Rockmusik erlebt einen unfassbaren Höhepunkt seines Genres und Klassikfreunde erhalten einen Katalog mit sensationellem Niveau auf sprachlicher, gedanklicher, geschichtlicher und musikalischer Ebene.

Hier ein mögliches fiktives paradiesisches Wochenende für HiFi Enthusiasten auf der Höhe ihrer Zeit: Nach einem distinguierten Samstagabend, der auf dem frisch erworbenen Sondek nacheinander die zahllosen gerade erschienenen Meilensteine der Rockmusik zum Klingen bringt, erholt sich der Hörer beim gemütlichen Autobahnspaziergang am Sonntagmorgen (Das Öl wurde ja sinnvoller für die Platten verbraucht), und beschließt, sich von so viel Kunstwerk zum Sprung ins Gesamtkunstwerk anregen zu lassen. Was liest er bei Ulrich Schreiber zu den lieferbaren Nibelungen-Ringen? Neben klaren Worten zu Interpretation, Sangesdarbietungen und Aufnahmequalität folgenden Satz: „Solti übernimmt durch seine formale Gestaltung den Inhalt des ‚Ring‘-Mythos, verdinglicht ihn; Karajan dagegen, der sich oft der Leitmotive gradezu zu schämen scheint, unterdrückt diesen Mythos zugunsten des musikalischen Prozesses - Furtwängler aber vollzieht ihn tatsächlich.“

Vollendet die drei geistigen Anverwandlungen des ewigen Werks - auch wenn die Kaufentscheidung damit keineswegs einfacher wird. Die Artikel und Empfehlungen verdanken sich zehnjähriger Tätigkeit für die Zeitschrift „Hi-Fi- Stereofonie“ und nehmen in ihren Urteilen kein Blatt vor den Mund. Gleich im Vorwort wird beteuert, dies sei kein Werk für den unentschlossenen Käufer, der „zu Weihnachten einer Tante die ‚Moldau‘ schenken will“ - kann man abgehoben finden, aber wo steht denn geschrieben, dass Bildungsangleichung immer durch Senkung des Standards erreicht werden muss? Zumal die Kaufvorschläge etwas konzilianter sind als der mit allen kritischen Wassern gewaschene Textteil.

Doppelter Grund, an dieser Stelle meines wichtigsten Plattenverkäufers zu gedenken. Zum Einen wegen seiner Verachtung für uniformierten Massengeschmack - den Umzug vom Mainzer zum Wiesbadener Marktplatz kommentierte er mit der Feststellung, hier frage wenigstens keiner nach einer Aufnahme der „Appassionata“ dirigiert (!) von Karajan. Zum Anderen wegen der beachtlichen Schnittmenge der hirnlastigen Kataloghinweise mit seinen emotionalen Tipps. Wenn Kritikerkopf und Händlerherz das gleiche sagen, profitiert das Hörerohr. Und so genießend gesättigt, lässt man sich von Ulrich Schreiber dann gerne sagen, die Formdurchbrechung in Beethovens Spätwerk sei „durchaus in Beziehung zu sehen mit der Wendung der idealistischen Dialektik bei Kant und Hegel zu der materialistischen bei Marx und Engels.“

Kurze Nutzanwendung langjähriger Hegel-Lektüre:
These: Es hat doch garantiert noch nie jemand beim Hören eines Rasumowsky-Quartetts an den kategorischen Imperativ und bei der Großen Fuge ans Kapital gedacht.
Anti-These: Lieber ein Autor mit Theorie-Überschuss als einer mit Praxis-Anbiederung.
Synthese (mit Nostalgie-Überschuss): Und das vom Mitarbeiter einer HiFi-Zeitschrift! Maximaler

Mehrwert!

Ein gänzlich anders Thema zeigt ausgerechnet die versnobt-elitäre Klassik, wie sie hier auftritt, als gesellschaftlichen Vorreiter. Hoch zu Ross scheint der Blick am schärfsten auf den braunen Sumpf und seine Umgebung. In einer Dekade, in der die Fraktions-Vorsitzende der Roten Armee die Ermordung israelischer Sportler als antiimperialistische Tat preist, der DFB-Vorsitzende Kritik am Besuch emigrierter führender Nazis im argentinischen Trainings-Lager (!) als Beschmutzung der Wehrmacht zurückweist und erst am Ende durch einen massentauglichen Hollywood-Streifen die Bezeichnung für das deutsche Menschheitsverbrechen sich einbürgert, hat der Musikkritiker Schreiber die passenden, durchdachten, intellektuell und moralisch angewiderten Worte über die „Nazi-Barbarei“ parat. Dies betrifft sowohl ideologischen Klassiker-Missbrauch wie sich anbiedernde zeitgenössische Dirigenten und Komponisten.

Paradebeispiel für erhellende Analyse ist der aalglatt vom Kaiserreich über Weimarer Republik,Drittes Reich bis zur Gründungsphase der Bundesrepublik sich schlängelnde Richard Strauss. Der unwidersprochenen Vereinnahmung seiner Stücke im Faschismus steht eine ganz und gar nicht mystisch-tiefe eigene Dirigier-Weise entgegen. Der Verfasser zitiert einen Kollegen: „Strauss war kein Nazi. Er war auch kein Anti-Nazi. Er war einer von denen, die es geschehen ließen.“

Straussens dezidiert deutschnationaler Kontrahent Hans Pfitzner erhält für seine widerliche Gesinnung kein Pardon, wird aber als Musiker entgegen heutiger Gepflogenheiten gutaufklärerisch gerade nicht abgecancelt: „Pfitzners Werk füllt ein wesentliches Kapitel in der Geschichte der deutschnationalen Kunstideologie - allein aus dem Grunde wäre eine kritische Auseinandersetzung mit ihm vonnöten.“

Schöner sind natürlich die kritischen Auseinandersetzungen um der Musik willen. Schreiber reflektiert über die Dialektik von Zeitverbundenheit und Zeitlosigkeit bei Bach, verwahrt sich gegen die Verwendung Haydens als „alten Gaul zum gefahrlosen Auftraben“ und die Puderüberzuckerung Mozarts nebst Reduktion auf „totale Verdaubarkeit“ gemäß der gleichnamigen Kugel. Streitbar - und das ist positiv gemeint - die Einführung zu Schumann, Sibelius und Tschaikowsky, herrlich unverschämt die zu Rachmaninow - schauen Sie sich Billy Wilders „Verflixtes siebtes Jahr“ an und Sie verstehen. Erstaunlich ist die Diskrepanz zwischen Angebotsüberfülle (Bach, Mozart, Beethoven, Ravel) und große Lücken (Hayden, Sibelius, Franck, Neue Wiener Schule) - manche haben sich in den folgenden Jahren verkleinert oder geschlossen.

Die kulturpessimistischen Töne über Kitsch, Konsum und Kommerz sind diesem Fachwissen angemessen, autodidaktische Liebhaber genießen den Luxus, sich über die hochinformativen Beihefte zum Beethoven-Karajan-Kassenschlager wie über das sagenhafte Buch zur Schönberg- Berg-Webern-Streichquartett-Box des La-Salle-Quartetts gleichermaßen zu erfreuen, beide von der Deutschen Grammophon, wahrlich kein Independent-Label.

Liebhaber des guten Klanges erfreuen sich zusätzlich über die zahlreich im Band verstreute Gerätehersteller-Werbung - und mögen schmunzeln, dass ein außergewöhnliches Produkt mit höchsten Qualitäts-Ansprüchen von den Firmen Elac, Dual, Yamaha, Grundig usw. bezahlbar gemacht wird; so viel Kapitalismus darf dann doch sein, wenn’s der Wahrheitsfindung dient, die damalige Geldausgabe von DM 13,50 konnte über Benzinsparen schnell wieder kompensiert werden.

Nicht verraten wird, was im Beitrag über Smetana steht, der Spannung wegen und weil ich jetzt los muss.

 

Rezension: Frank Rüb